Gott auf Augenhöhe

Faith Impulse

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Esther Handschin

Pastorin, Erwachsenenbildung


Predigt zu Lukas 13,10-17

Kindern auf Augenhöhe begegnen

Wer mit Kindern zu tun hat, kennt diesen Grundsatz: Wenn du willst, dass ein Kind dir zuhört, dann begib dich auf seine Augenhöhe. Das heißt: Ruf ihm nicht aus der Ferne zu, was es tun soll. Du wirst keinen Erfolg damit haben. Befiehl ihm nicht von oben herab, was es tun soll. Es wird sich dir und deinen Anliegen verschließen und nicht befolgen, was du sagst.

Stelle dich vielmehr auf die gleiche Ebene wie das Kind. Dann siehst du die Welt mit seinen Augen. So nimmst du wahr, wie dieses Kind seine Welt sieht. Versuche, dich in seine Gefühlswelt einzuleben. Dann verstehst du seine Ängste und Sorgen, die Angst vor Skeletten und Geistern ebenso wie die Angst zu versagen oder sich zu blamieren. Und dann verstehst du auch, warum ein Kind so und nicht anders handelt.

Eine Frau ohne Blick  in die Weite

Jesus begegnet in dieser Geschichte aus dem Lukasevangelium einer Frau, deren Perspektive, deren Blickrichtung ebenfalls anders ist als die der meisten Menschen. Ihr Rücken ist gekrümmt. Seit 18 Jahren kann sie nicht mehr aufrecht gehen. Seit 18 Jahren hat sie keinen freien Blick mehr, sondern sieht nur vor sich hinunter: den Boden vor sich, mit allem Schmutz und Staub, die Füße der Menschen, die mit ihr sprechen, aber nicht ihre Gesichter.

Das engt den Horizont ein. Das macht die Perspektive kurz. Die Möglichkeiten etwas Neues in den Blick zu fassen sind gering. Seit so vielen Jahren nicht mehr aufsehen zu können, das macht nicht nur den Rücken krumm, sondern auch die Seele. Vielleicht auch durch Worte wie diese, die man ihr zugerufen hat: „Du alte Hexe mit deinem krummen Rücken!“

Was hat ihr Leben so mühsam und beschwerlich gemacht? Was hat dieser Frau das Rückgrat gebrochen? Was drückt sie so nieder? Sind es Sorgen um das tägliche Durchkommen? Gibt es schwierige und belastende Beziehungen in ihrem Leben? Sind es die Kinder, um deren Zukunft sie bangt? Sind andere gemeinsam gegen sie vorgegangen und haben ihr den Lebensmut genommen?

Eine andere Verengung des Blicks

Nicht nur Rückenschmerzen lassen einem Menschen krumm und gebeugt gehen. Nicht nur Sorgen um die Zukunft und die Frage „Wie weiter?“ verengen das Blickfeld einer Person. Das wird deutlich, wenn man in diesem Textabschnitt noch weiter liest als nur die Geschichte der Heilung dieser Frau.

Eigentlich könnte die Geschichte ja mit der Heilung enden: Jesus legt der Frau seine Hände auf. Sie richtet sich auf und lobt Gott. Und mit ihr jubelt das ganze Volk, das sich in der Synagoge befindet.

Doch so kurz ist diese Geschichte eben nicht. Da ist noch eine andere Geschichte mit hineinverwoben. Da wird auch noch von einem anderen Menschen erzählt, dessen Blick beschränkt und verengt ist. Es geht um eine enge und ängstliche Geisteshaltung, die den Horizont eng werden lässt. Auch das kann den Blick für das Notwendige verengen. Wenn das Leben nur davon geprägt ist, dass man Angst hat zu kurz zu kommen oder etwas falsch zu machen, dann ist es, wie wenn man mit einem krummen Rücken durch das Leben gehen müsste.

So begegnet Jesus an jenem Sabbat nicht nur der Frau mit dem krummen Rücken. Da ist auch noch der Leiter der Synagoge, um den es geht. Er macht Jesus darauf aufmerksam, dass Heilen eine Arbeit ist. An sechs Tagen in der Woche gibt es Zeit genug, um zu arbeiten. Aber doch nicht am siebenten Tag, am Sabbat. Dieser Tag gehört nicht den Menschen, dieser Tag gehört Gott und zwar ausschließlich.

Wie wenn er die direkte Auseinandersetzung mit Jesus scheuen würde, so wendet er sich nicht direkt an ihn, sondern an die umstehenden Menschen: „Es gibt sechs Tage, die zum Arbeiten da sind. Also kommt an einem dieser Tage, um euch heilen zu lassen — und nicht am Sabbat!“ (V14) Er schärft ihnen ein: Haltet euch an die Vorschriften. Bewegt euch nur innerhalb der erlaubten Grenzen. Denkt ja nicht weiter darüber nach, sondern tut, was man euch sagt. Träumt ja nicht einen Traum, der darüber hinaus geht und macht euch keine Hoffnungen auf ein anderes Leben.

Wie erreicht die befreiende Botschaft die Menschen?

Jesus spürt, dass sowohl diese Frau mit ihrem krummen Rücken wie auch der Leiter der Synagoge mit seiner engen Geisteshaltung dasselbe brauchen: eine Veränderung ihrer Lebenshaltung, einen Zuspruch, der für sie zur Befreiung wird. Beide sind gebunden, beide haben es verlernt aufrecht und mit erhobenem Haupt durchs Leben zu gehen. Beide brauchen die Aufforderung und den Zuspruch: Sei frei! Sei frei von deiner Krankheit! Sei frei von deinen Lasten! Sei frei von deiner Angst vor Fehlern!

Doch werden die beiden auch von Jesu Wort erreicht? Dringt seine Aufforderung bis zu dieser Frau vor, die doch ihren Blick nur auf den Boden gerichtet hat? Hört der Leiter der Synagoge, womit ihn Jesus bekannt machen will, wo doch sein Denken so sehr auf die richtige Erfüllung aller Gebote ausgerichtet ist?

Hören wir Jesu Stimme, sein Wort der Befreiung mitten im Stimmengewirr des Alltags? Hören wir Jesu Ruf heraus aus all dem, was uns beschäftigt und in Beschlag nimmt an Ängsten und Sorgen?

Auf Augenhöhe begegnen

Ein Punkt scheint mir in dieser Geschichte entscheidend zu sein: Jesus ruft nicht aus der Ferne dieser Frau zu: Sei frei! Jesus lässt dem Leiter der Synagoge nicht über einen Boten ausrichten: Ich rufe dich heraus aus deinem engen Denken. Nein, Jesus begibt sich wie ein guter Erzieher auf Augenhöhe dieser Menschen.

Er sieht die Frau, wie sie dort in der Ecke sitzt. Er ruft sie zu sich. Er will dieser Frau begegnen und das kann nur geschehen, wenn er ihre Perspektive einnimmt, mit ihr auf gleicher Augenhöhe ist. Da sieht Jesus wie mühsam ihr Leben sein muss. Er erfährt, was es heißt, wenn man nur den Boden vor sich sieht. Wenn man nur die Füße und Schuhe der Menschen sieht statt ihre Gesichter.

Er heilt sie, weil er in ihrer Nähe bemerkt, wie belastend diese Situation für sie sein muss. Er spürt auch, dass diese Frau selbst nicht die Kraft hat, sich aufzurichten und ihn um Heilung zu bitten. Dass sie in ihrer gebückten Haltung Gott nicht mehr loben kann. Und so legt Jesus ihr die Hände auf. Wie ein Chiropraktiker bringt er Wirbel um Wirbel wieder in die richtige Position. Er richtet aufeinander, was sich verschoben hat. Und da richtet sich nicht nur diese Frau auf. Sie findet zum Lob Gottes zurück, zur eigentlichen Bestimmung des Menschen.

Den Horizont erweitern

Die Frau ist jedoch nicht die einzige, zu der sich Jesus auf Augenhöhe begibt. Auch dem Leiter der Synagoge begegnet er auf Augenhöhe. Es geht um seine Art zu denken und zu reden. Das ist die Sprache der Argumentation und der Diskussion. Und Jesus findet ein treffendes Beispiel, passend zur Frage, ob man am Sabbat arbeiten soll oder nicht: Wenn sogar Tiere losgebunden werden, damit man sie am Ruhetag zur Tränke führt, warum sollen dann nicht auch Menschen losgebunden werden von ihren Krankheiten, von den Fesseln an die sie gebunden sind, wo sie sich doch von den Tieren unterscheiden?

Wenn der Sabbat für den Menschen geschaffen ist und nicht der Mensch für den Sabbat, dann muss man doch zu einer ganz anderen Beurteilung der Gebote und Vorschriften kommen. Mit seinem Beispiel gibt Jesus dem Leiter der Synagoge die Möglichkeit seinen Horizont zu öffnen, etwas weiter zu sehen als es seine enge Einstellung erlaubt. Durch den Blick auf seiner Augenhöhe ermöglicht er ihm eine Blick hinaus in die Weite von Gottes Güte.

Ein Beispiel aus der Krankenpflege

Was es heißt einem Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, dazu hat mir eine Krankenschwester, die für die Pflege alter Menschen spezialisiert ist, einmal ein eindrückliches Beispiel erzählt. Sie ist auf eine Station gerufen worden, wo das Pflegepersonal sich mit einem älteren Herrn nicht mehr zu helfen wusste. Er sollte eine Infusion bekommen und dazu still auf seinem Bett liegen. Doch dieser Mann war so unruhig, dass er nur im Gang auf und abging, oder besser gesagt, hin und her rannte.

Die Krankenschwester wusste sich nicht anders zu helfen als erst einmal neben diesem Mann herzurennen, eine Viertelstunde lang, eine halbe Stunde lag und noch länger. Außer Puste erlaubte sie sich dann die Bemerkung: „Ganz schön schnell, Ihr Tempo.“ So gelang es ihr, diesen aufgeregten Herrn allmählich in ein Gespräch zu verwickeln und das Tempo zu drosseln. Nach und nach erfuhr sie etwas aus seiner Lebensgeschichte.

Er führte früher eine Firma, hatte eine Sekretärin, die ihm in manchen Alltagsfragen entlastete. Auf die Frage, was er normalerweise um diese Zeit gemacht habe, so am späteren Vormittag, da antwortete er: Da habe ich die Post erledigt und Zeitung gelesen.

Das war wie ein Schlüssel für die Krankenschwester. Sie konnte den Patienten davon überzeugen, dass es auch jetzt im Krankenhaus sinnvoll sei die Zeitung zu lesen. Ihn auf Augenhöhe begleitend hatte sie herausgefunden, was er brauchte, damit er seine Ruhe fand: Eine Zeitung und einen Umgang als sei er heute noch der Direktor seiner Firma. Und so ließ er sich neben der Zeitung all die Infusionen verabreichen, die das Pflegepersonal vorgesehen hatte.

In Jesus begegnet uns Gott selbst auf Augenhöhe

Für mich ist Jesus nicht nur dadurch wie er gehandelt hat ein Beispiel für mein Handeln. Jesus selbst ein Sinnbild dafür, was es heißt, jemandem auf seiner Augenhöhe zu begegnen. In Jesus ist es Gott selbst, der uns auf unserer Augenhöhe begegnet. Er macht sich auf diese Weise selbst bekannt mit unseren Lasten und Sorgen. Er erfährt auf diese Weise, was einen Rücken krumm macht, oder was uns fesselt und gefangen hält.

In Jesus Christus spricht Gott unsere Sprache. Er ruft uns zu: Sei frei von deiner Krankheit! Ich erlöse dich von dem, was dich beschäftigt und gefangen nimmt. Ich will, dass du so leben kannst, wie ich dich geschaffen habe: als ein Mensch, der aufrecht und nicht gebeugt durch das Leben geht; als ein Mensch, der frei seinen Kopf erhebt und fröhlich Gott lobt und ihm dient.

Die Frage lautet also nicht: Was macht einen Menschen zu einem Menschen, sondern: Was macht Gott zu einem menschenfreundlichen Gott? Was macht Gott zu einem Gott, der uns nicht in Angst und Schrecken versetzt, sondern dessen Gegenwart heilend und heilvoll wahrgenommen wird? Dass er in Jesus Christus selbst Mensch geworden ist, dass er unsere Perspektive eingenommen hat, dass er unsere Augenhöhe kennt, das macht diesen Gott zu einem menschenfreundlichen und liebenden Gott. Amen.

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