Was braucht der Mensch in der Krise?

Faith Impulse


Auf die Lesungen aus dem Buch Hiob der vergangenen Sonntage folgt das Buch Ruth. Anhand von Ruth 1,1-18 wird unter anderem der Frage nachgegangen, was wir auf beiden Seiten einer Krise lernen können und was dabei hilfreich ist oder sein könnte.

Liebe Gemeinde, ich habe für meine heutige Predigt das Buch Ruth ausgewählt. Und das hat mehrere Gründe. Zunächst einmal hat mich die Antwort von Ruth berührt, die wir heute gehört haben. Wieviel Liebe steckt doch in dieser Antwort! Dann habe ich das gesamte Buch Ruth gelesen und mich wieder einmal an den vielen Momenten und Schilderungen der Zärtlichkeit gefreut; der Achtsamkeit und der Freundlichkeit, die in den Gesprächen deutlich wird. Das Buch Ruth ist ein Beispiel dafür, wie Menschen miteinander umgehen können oder besser gesagt: wie Menschen auch miteinander umgehen können oder könnten. Und nach mehrmaligem Lesen und einer vertiefenderen Recherche ist mir die Parallele zum Buch Hiob aufgefallen. Wie unsere Leseordnung nach Hiob jetzt Ruth aufgreift und welcher Sinnzusammenhang hier besteht. 

So wie Hiob macht Noomi eine existenzielle, schwere Krise durch. Sie hat ihren Mann und beide Söhne verloren. Damit ist sie in einer patriarchalen Gesellschaft auch rechtlos geworden. Ihr bleibt nur die Rückkehr nach Juda. Was braucht ein Mensch, um so eine wirklich schwere, lebensbedrohende Krise durchzustehen? 

Hiob hat sich trotz aller Klage, trotz schwersten Anschuldigungen und Zweifeln Gott zugewandt. Seine Freunde konnten ihm nicht helfen. Die Kluft zwischen Hiob und seinen Freunden wird mit jeder Rede, die sie miteinander austauschen, immer größer statt kleiner. Statt Solidarität und Mitgefühl für ihren Freund Hiob vertreten sie die Seite Gottes – so wie sie diese Seite Gottes zu verstehen glauben. Am Ende wird Gott aber über dieses Vorhaben sagen: „Ihr habt nicht recht von mir geredet, wie mein Knecht Hiob – bringt ein Brandopfer dar, sodass ich euch nicht Schlimmes antue. Mein Knecht Hiob aber soll Fürbitte für euch einlegen, auf ihn will ich hören.“ Gott solidarisiert sich mit seinem Knecht Hiob. 

Bei Noomi erleben wir eine andere Form der Solidarität und des Beistandes. Hier ist es nicht Gott persönlich, der hilft und tröstet, sondern die Hilfe kommt von einem Mitmenschen. In Ruth findet Noomi eine Begleiterin, die zu ihr steht. Die nicht wankt, die nicht zögert, sondern die sich mit aller Kraft für die Begleitung von Noomi stark macht. Auf diese Verpflichtung, diese Zusage, ja auf diese Hingabe möchte ich zum Schluss auch noch kurz eingehen.

Aber im Hauptteil soll es um die Frage gehen: Was braucht ein Mensch in der Krise? Was ist hilfreich und was eher nicht? Wie können wir auf beiden Seiten einer Krise dazulernen? Als diejenigen, die Hilfe brauchen und diejenigen, die Hilfe leisten können?

Das Buch Ruth beschreibt im heute gehörten ersten Kapitel eine veritable Krise. Für uns heutige, deutsch sprechende Hörerinnen und Hörer ist es eigentlich sehr schade, dass wir die literarische Qualität dieses Meisterwerkes der hebräischer Erzählkunst nicht mehr hören können. Sie wird durch die Verwendung lauter, für sich sprechender, Eigennamen deutlich: Elimelech – mein Gott ist König. Noomi – die Liebe oder Liebliche. Machlon und Kiljon, das sind die Söhne – Machlon, der Kränkliche, Kiljon, der Schwächliche. Das geht bis hin zu Orpa, der zweiten Schwiegertochter. Ihr Name bedeutet „die den Rücken Kehrende“ und reicht bis zum später Ruth heiratenden Boas. Boas – in ihm ist Kraft oder der Potente, Zeugungsfähige. Einzig für Ruth gibt es keine eindeutige, etymologische Deutung. Auch das ist wohl kaum ohne Grund geschehen.

Was braucht ein Mensch in der Krise? In einer Krise brauchen wir Menschen, die ohne Bedingungen zu uns stehen; die uns aufbauen und die uns die verlorene Sicherheit wiedergeben oder wieder anbieten können. Denn eine Krise löst ja neben Leid und Trauer oder Wut und Schmerz, sozusagen als Begleiterscheinung, eine Verunsicherung aus: Wie wird es weitergehen? Wie werde ich mit dem Leid und der Trauer oder der Wut und dem Schmerz umgehen? Umgehen können? Was wird es in mir auslösen? Wie komme ich mit der neuen Situation zurecht?

Und um es für unsere nicht deutsch als Muttersprache sprechenden Geschwister nochmal ganz deutlich zu machen: Eine Krise ist das, was Noomi mit dem Tod ihres Mannes und ihrer beiden Söhne erlebt. Mit dem Wort „Krise“ bezeichnen wir einen echten Einschnitt, eine Erschütterung im bisherigen Leben. 

Wenn uns die Buttersemmel mit der Butterseite voran auf den Boden fällt und der Dreck auf der Semmel kleben bleibt, dann ist das ein Unglück. Ungünstig gelaufen, aber keine Krise. Und wenn wir einen Strafzettel für zu schnelles Fahren bekommen, dann ist das ärgerlich – aber keine Krise. Oder wenn man, so wie ich im Sommer, seine Brille im Fluss verliert, weil das Boot kentert und man die schon gekaufte Schnur nicht an der Brille befestigt hat – dann ist das Dummheit. Eine teure Dummheit, aber noch lange keine Krise.

Eine Krise ist der Verlust eines geliebten Menschen, der Verlust eines Armes oder eines Beines, eine Beendigung einer langjährigen Beziehung oder wenn man das eigene Haus bei einem unkontrollierten Waldbrand verliert. Das sind Krisen.

Und in diesen Krisen, das ist auch sehr kennzeichnend, sind wir verunsichert. Der feste Grund auf dem wir zu stehen glaubten, gerät in Bewegung, er gerät ins Wanken.

Wenn es ganz schlecht läuft, dann kann so ein Verlust das ganze Leben ins Wanken bringen. Die Frau oder der Mann entscheidet sich für einen anderen Partner, man beginnt zu viel Alkohol zu trinken, verliert den Arbeitsplatz, damit auch die Wohnung und findet sich plötzlich auf der Straße wieder. Manchmal geschieht so etwas sehr schnell und ist dann um so tragischer.

Was braucht ein verunsicherter Mensch? Ein wankender, den Boden unter den Füßen verlierender Mensch? Meiner Ansicht nach braucht er zunächst einmal Sicherheit. Er muss wissen, auf wen er sich verlassen kann. Er braucht Nähe, Mitgefühl, Solidarität. Er muss sich angenommen wissen.

Die beste, für mich wirklich beeindruckende, Begleitung oder Form des Mitgefühls bei Hiob, war die erste Begegnung mit seinen Freunden. Sie kamen und saßen eine Woche schweigend mit Hiob in der Asche. Denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war. 

Das hat Hiob sicher Kraft gegeben. Diese schweigende Solidarität. Dieses geteilte Leid.

Leider haben die Freunde dann angefangen Hiob Ratschläge zu geben; das unverschuldete Leid von Hiob anzuzweifeln; Hiob die Welt zu erklären – wie sie aus ihrer Sicht eben ist oder nicht ist. Das fand weder Hiob noch schlussendlich Gott besonders hilfreich.

Vielleicht hilft uns ja auch der folgender Gedanke: Ein Ratschlag ist etwas, das von außen kommt. Ein Ratschlag kommt nicht vom Menschen selbst oder hat seinen Ursprung in ihm, sondern wird von einem anderen Menschen an ihn herangetragen. Und ein Ratschlag ist eben kein Zuspruch, nein. 

Ein Ratschlag stellt meistens etwas in Frage oder will eine Veränderung der jetzigen Situation. 

„Dir ist dein Mann davon gelaufen – ja, dann such dir eben einen Neuen.“ „Du hast dein Bein verloren – ja, dann kauf dir eben einen Elektrorollstuhl.“ Das ist die brutale, die plumpe Art, wie sie im Kabarett gerne verwendet wird.

Die weniger brutale Art sind dann Ratschläge, was man tun soll, wie man sich verhalten sollte oder was denn Frau Mayer oder Herrn Huber geholfen hat und so weiter.

Nur – ist das in einer Situation der Krise hilfreich? 

Kann man in einer Krise schon gleich aktiv sein wie vorher? Will man als verunsicherter Mensch darüber nachdenken, was man anders machen könnte? Setzt nicht jede Kritik oder jeder Ratschlag voraus, dass der andere genügend Kraft hat, um die Anfrage an sein jetziges Verhalten auch aushalten zu können?

Ich glaube, dass das Verhalten von Ruth, so wie wir es heute gehört haben, wesentlich hilfreicher ist. Nicht nur hilfreicher, sondern diese Antwort hat alles, was es braucht um einen krisengeschüttelten, schwachen, verunsicherten Menschen aufzurichten: „Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren! Wohin du gehst, dahin geh ich auch und wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich begraben werden. Der HERR soll mir dies und das antun – nur der Tod wird mich von dir scheiden.“

Diese Klarheit, diese Eindeutigkeit, diese bedingungslose, alles in die Waagschale werfende Solidarität, ja eigentlich Liebe, macht den Unterschied. Hier ist ein Fels. Eine felsenfeste Aussage, an der man sich festhalten kann; an der Noomi sich festhalten kann. „Dein Gott ist mein Gott“, das ist schon eine Ansage, das ist wirklich beeindruckend.

Man kann ja immer nur für sich selbst sprechen, also sage ich: Ich finde das wirklich berührend. 

Und ich denke, das ist etwas, was ich mir auch heute noch zum Beispiel oder Vorbild nehmen kann: So eindeutig und klar zu lieben. Für meine Solidarität und Zuneigung so gute Worte zu finden. Mich mit ganzer Hingabe für etwas einzusetzen. 

Ruth hat keinen Plan B. Sie hat keine Ausstiegsklausel. Sie wirft sich voll hinein, geht aufs Ganze.

Das passt nicht für alle Situationen im Leben, das ist natürlich richtig. Auch die Besonnenheit hat ihren Platz, selbstverständlich. Einwand stattgegeben.

Aber dieses mit Haut und Haar hat schon etwas Kraftvolles. Etwas Lustvolles. Etwas, das auch eine Riesenfreude auslösen kann.

Das zaubert mir ein Schmunzeln ins Gesicht und gibt mir Mut: Man wird ja noch träumen dürfen.

Amen.

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