Lebens- und Glaubensgeschichten, die sich verweben
Glaubensimpuls

Pastorin

Geschichten erzählen
Liebe Gemeinde, liebe Geschwister,
nach dem Taufwasser von den Kindern habe ich vorhin als erstes eine Bibel überreicht bekommen. Das ist nicht zum ersten Mal in meinem Leben geschehen. Also dass ich eine Bibel überreicht bekomme. Wahrscheinlich ist das jetzt keine überraschende Information über mich als Pfarrerin, als Pastorin, als in einer evangelischen Familie aufgewachsene Person aus einem frommen Dorf in Württemberg, im Süden von Deutschland. Trotzdem will ich euch das heute so erzählen. Denn es hat auch mit Psalm 139 zu tun. Große Teile daraus haben wir gerade miteinander gebetet. Psalm 139 ist als einer der biblischen Texte für den Gottesdienst an diesem 13. Sonntag nach Pfingsten (für Lutheraner*innen: der 12. Sonntag nach Trinitatis) in der weltweiten evangelisch-methodistischen Kirche in der Leseordnung an der Reihe. Und als ich den Psalm in meiner Bibel aufgeschlagen habe (und eigentlich wusste ich es sowieso schon, ohne aufschlagen), mit dem im Kopf, was ich mit Stefan über die Amtseinführung und die ganzen Symbole besprochen hatte, da ist mir das wieder in den Sinn gekommen: Wenn ich heute eine Bibel überreicht bekomme, damit ich als Verkünderin des Wortes Gottes unter euch sein kann, dann ist das mit der Bibel nicht das erste Mal.
(M/d)eine Geschichte – von Ewigkeit her
Ich habe schon eine Geschichte. So wie ihr. Eure ist, wenn ich euch als Gemeinde anspreche, hier. In diesen und in anderen Räumen. In eurem gemeinsamen Leben. In den Erzählungen, die ich schon hören durfte. In manchen Zwischentönen. In Traurigkeiten und im herzlichen Lachen. Meine Geschichte bring ich mit. Aus einem anderen Land. Aus einer anderen Kirche. Ein paar unter uns könnten von der letzten Station in Geislingen erzählen. Ich leg diese Geschichte dazu. Und diese Geschichte, die ich dazu lege, fängt nicht ihm Mai 2025 an, als ich nach Wien gezogen und hier meinen Dienst ja schon begonnen habe. Sie fängt auch nicht im November 2024 an, als ich zum ersten Mal hier gepredigt habe. Eigentlich gar nicht hier, sondern oben im provisorischen Gottesdienstraum. Sie fängt auch nicht vor ziemlich genau einem Jahr an, es muss nämlich gestern vor einem Jahr gewesen sein, dass ich das erste Mal in die Sechshauser Straße gekommen bin und ein erstes Gespräch mit Stefan hatte. Sie beginnt auch nicht mit meiner Ordination im Jahr 2009 oder mit dem Studium oder oder oder. Sie fängt vor viel mehr Jahren an, und weil ich auch ein bisschen eitel bin, müsst ihr euch den genauen Zeitpunkt selbst denken oder ihr fragt nachher meine Schwester, die auch hier ist. Wenn man es genau nimmt, fängt meine Geschichte sowieso noch früher an. Übrigens ebenso wie deine: „Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“
So betet der Psalmbeter, und das heißt: Die ganze Geschichte beginnt wirklich ziemlich früh. Diese ganze Geschichte, die mich heute hierher geführt hat. Die uns zusammen geführt hat. Der Psalmbeter setzt sogar noch eins drauf: „Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war; sagt er zu Gott, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.“ (Psalm 139,16)
Vor Gottes Augen stand ich mit meiner ganzen Geschichte bevor etwas anderes von mir da war. So wie jede von euch. Jeder hier im Raum. Als Menschen. In seinen Gedanken bin ich von Ewigkeit her. Du auch. Und du, und du… Ganz schön gewagt, das so zu sagen und zu denken. Kühn irgendwie. Kein Wunder, dass der Psalmbeter sagt: „Aber wie schwer sind für mich Gott, deine Gedanken!“ (Psalm 139,17a) Ich krieg da selbst einen Knoten im Hirn. Ich kann mir das gar nicht so richtig vorstellen, die Ewigkeit und alles. Was war, was ist, was sein wird.
Die Geschichte meiner Bibel
Lassen wir das deshalb mal beiseite und kehren zum Überreichen der Bibel zurück. Das ist etwas Handfesteres. Da hat man was, an dem man sich festhalten kann. Das mag ich. Ich halte gerne etwas in der Hand. Dann komm ich mit manchen Gedanken besser klar. Deshalb bin ich froh, dass die Liturgie zur Amtseinführung diesen ganz handfesten Teil hatte.
Also. Als Kind der württembergischen Landeskirche könnt ihr euch denken, in welchem Zusammenhang ich schon einmal eine Bibel offiziell im Gottesdienst überreicht bekommen habe: Bei der Vorbereitung zur Konfirmation. Das ist dort Tradition. Im März 1991 bin ich konfirmiert worden, und am Anfang des Konfirmanden-Unterrichts habe ich – wie meine Mit-Konfirmand*innen auch – und wie schön, dass heute zwei davon auch hier sind! – eine Luther-Bibel geschenkt bekommen. Sie ist von außen grün und mittlerweile ziemlich ramponiert. Als ich zwei Semester in Brasilien studiert habe, ist sie sogar von einer Kakerlake angeknabbert worden. Ich habe die Bibel außen mit braunem Paketkleber geklebt, damit sie nicht auseinanderfällt, und na ja, schön ist das nicht. Aber es hält. Innen drin sind verschiedene Kärtchen, Bibelverse, Zettel, die ich irgendwann einmal als Lesezeichen hineingelegt habe oder weil sie mir gut gefallen haben. Ich habe die Bibel immer noch. Und ich benutze sie auch weiterhin, auch wenn es mittlerweile sowohl eine neue Luther-Übersetzung gibt als auch die BasisBibel, die ich sehr schätze. Und auch wenn ich zumindest in der Theorie als Theologin, die etwas auf sich hält, die Bibel sowieso am liebsten auf Hebräisch oder auf Griechisch lesen sollte. Spoiler: Meine Fähigkeiten dazu haben Grenzen. So ist mir meine alte Bibel geblieben – Gott sei Dank.
Wenn die Geschichte dich selber meint
Sie ist geblieben, und trotzdem hat sie sich über die Jahre immer wieder verändert. Sie ist gewachsen und hat sich gefüllt. Und verändert hat sie auch immer wieder mich. Das merke ich an der Veränderung in ihr.
Denn manches habe ich darin markiert – im Bibelkunde-Kurs an der Uni in Heidelberg zum Beispiel, wo ich ein Semester lang Bücher und Kapitel sowie Gliederungsmerkmale und Gattungen auswendig gelernt habe. Aus dieser Zeit ist neben Psalm 139 ein blaues „W“ eingetragen, das steht für „Weisheitspsalm“. Psalm 139 steht also in derselben Tradition wie der Text, der uns in der letzten Woche durch den Gottesdienst begleitet hat, Prediger 3, „Alles hat seine Zeit“. Der Psalmbeter beschäftigt sich mit einem weisheitlichen Blick mit der Frage: Wie kann Leben gelingen? Er beantwortet diese Frage nicht, indem er seine Erfahrungen in die Geschichte des Volkes Gottes stellt, sondern im Blick auf sich als Einzelner in seiner ureigenen, in seiner individuellen Gottesbeziehung. (In Klammern: Mein Herr und ich – das ist in meiner Jugend im vom Pietismus geprägten Württemberg ein wichtiger Fokus des Glaubens gewesen und deshalb ist mir dieser Fokus des Psalms auch sehr vertraut – dennoch bin ich froh, mittlerweile auch andere Seiten der Gottesbeziehung in Gemeinschaft mit anderen Menschen kennengelernt zu haben und ich bin sehr guter Dinge, dass ich das in meinem Dienst in der EmK noch fröhlich ausbauen darf).
Eine zweite Ebene der Markierungen in meiner Bibel hat mit meinem Pfarramt, oder jetzt: Pastorinnenamt oder -Dienst zu tun. Immer wieder habe ich während der Predigtvorbereitung in den vergangenen Jahren seit dem Beginn meiner Ausbildung zur Pfarrerin, dem Vikariat, etwas markiert. Wenn mir einzelne Wörter aufgefallen sind. Wenn mir etwas beim Nachdenken und Schreiben wichtig geworden ist. Wenn ich gedacht habe: Das ist jetzt wirklich besonders! Das ist wichtig im Text. Oder: Das ist wichtig für die Gemeinde! Das erzählt ihr etwas von Gott, das sie jetzt hören sollte, das wir gemeinsam hören sollten.
Und dann gibt es noch eine dritte Ebene von Markierungen. Die Bibel ist ja nicht nur Arbeitsgrundlage oder Werkzeug für meinen Dienst als Pfarrerin oder Pastorin, sondern seit der Vorbereitung auf meine Konfirmation habe ich diese Bibel auch für mich gelesen oder zusammen mit anderen Christinnen und Christen. Um in Verbindung zu bleiben mit Gott. Um zu erkennen, was er (oder sie?) von mir will. Um Entdeckungen zu machen auf meinem Glaubensweg. Um mir selbst zu begegnen und Gott und seinem lebendigen Wort. Um mit anderen zu verstehen, wer wir als Kirche sind. Auch auf dieser Ebene – die sich natürlich von der zweiten Ebene nicht klar trennen lässt, weil ich auch als Pastorin ja ich als Person bin – sind in der Bibel immer wieder Verse farbig markiert. Oder Notizen mit Bleistift an den Rand geschrieben. Zu der Zeit, als ich Psalm 139 für mich entdeckt habe, habe ich mit einem lila, mit einem violetten Buntstift in der Hand die Bibel gelesen, denn etliche Verse dieses Psalms sind damit übermalt. Es muss noch als Teenager, als Jugendliche gewesen sein, dass ich bei Psalm 139 gespürt habe: Da bin ja ich gemeint.
In dieser Umbruchszeit, in der Vieles für mich unsicher war und ich nicht immer wusste, wer ich eigentlich bin und ob ich auf dem Weg bin, den Gott für mich vorgesehen hat und überhaupt, ob Gott wirklich für mich da ist, da haben mir die Verse aus Psalm 139 oft geholfen: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir… Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin…“ (Psalm 139,5.14)
In die Worte konnte ich mich einfach hineinstellen. Und sie damit als wahr erleben. Als bedrohlich habe ich das selbst nie empfunden, obwohl diese Allgegenwart Gottes ja durchaus auch als Machtinstrument von Menschen missbraucht worden ist: Gott sieht alles. Also verhalte dich so, dass er sich nicht an dir stört. Den Psalm so zu lesen wird ihm aber nicht gerecht.
In den letzten Jahren habe ich Psalm 139 immer mit meinen Erstklässlern auf der Realschule, so etwas wie die Mittelschule, im Religionsunterricht gelesen. Ich war immer wieder selbst davon berührt, wie die Schülerinnen und Schüler die Worte in sich aufgenommen und Vertrauen gefasst haben: Ins Leben und in Gott. In sich selbst.
Geschichten von Finsternis und Licht
Und dann gibt es auch in meinem Leben andere Erfahrungen. Auch der Psalmbeter erzählt übrigens davon. Nur sind diese Verse im Gesangbuch ausgelassen. Ich denke aber: Auch andere Erfahrungen gehören dazu. Bisweilen habe ich die Sätze von Psalm 139 mit Verweigerung, mit Auflehnung mitgesprochen… Wenn ich gelitten habe an der Güte Gottes, von der andere reden, weil sie in meinem Leben nicht mehr zu erkennen war. Weil mein Leben sich angefühlt hat wie ein einziger dunkler Karfreitag und ich nicht mehr gesehen habe, wie ich aus diesem Loch jemals wieder herauskommen kann. Dann bin ich wütend geworden, wenn ich gelesen habe: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein -, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag.“ (Psalm 139,9-12) Ich bin wütend geworden, weil ich gar kein Licht wollte. Weil ich die Finsternis in mir so stark gefühlt habe, dass ich nicht glauben konnte, dass es das Licht noch gibt. Manchmal gibt es solche Zeiten im Leben. Nicht nur bei Lebensumbrüchen wie als Teenager. Manchmal sind es Lebenskatastrophen, die über einen hereinbrechen. Finsternis kann finster sein, und dass sie wie das Licht ist, ist nicht immer die Erfahrung, die man dann macht. Ich bin froh, dass Gott sie mir dann nicht aufgezwungen hat, die Erfahrung des Lichts. Ich bin froh, dass er sich neben mich gesetzt hat in das dunkle Loch. Und dann hat er einfach mit mir ausgehalten und gewartet. Weil es manchmal eben so ist.
Wenn Geschichten sich verweben und etwas Neues beginnt
Ich könnte jetzt noch vieles sagen über den Psalm. Eine ganze Lebensgeschichte steckt ja darin. Poesie steckt darin und Erkenntnis. „Flügel der Morgenröte“ und „erforschen“ und „zählen". Intellekt und Gefühl. Das ganze Sein und der ganze Raum eines Lebens und eines Glaubens. Vertikal und horizontal: Der Himmel und die Totenwelt. Das äußerste Meer. Das absolute Chaos, die Finsternis. Und das Licht. Das Licht, das stärker ist. Trotz allem. Ich glaub das schon: „Finsternis ist wie das Licht.“
So erinnert mich Psalm 139 an meine Lebens- und Glaubensgeschichte. An meinen Weg mit dem lebendigen Gott, der mit all den Worten und Geschichten in meiner Bibel verbunden ist.
„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.“ (Psalm 139,23-24) So endet Psalm 139. Mit der Bitte an Gott. So ende ich auch die Predigt. Mit der Bitte an Gott.
Wie damals vor vielen Jahren habe ich heute eine Bibel überreicht bekommen: Die Bibel, die von eurer Geschichte als Gemeinde, auch in diesem Raum, erzählen kann. Meine Geschichte wird sich nun mit eurer Geschichte verweben. Angefangen hat das ja schon. Ein Glück. Ich bin sehr froh darüber. Ein paar Fäden sind schon gesponnen, und sie fangen an, tragfähig zu werden. So empfinde ich das, und ich bin dankbar dafür. Dafür steht übrigens auch die Stola, die ich nun trage. Als letztes von den Symbolen ist sie vorhin dazugekommen. Ich trag so eine Stola heute zum allerersten Mal! Was wir heute tun, heißt in der methodistischen Kirche „Amtseinführung“. In meiner bisherigen Kirche heißt es „Investitur““. Das hat mit Einkleiden zu tun. Und so gefällt es mir, dass ich meinen alten Talar trage und die Stola darüber. Wie ein Gewand, dass sich schon verändert hat und sich noch weiter verändern kann. Ich bring meine Geschichte mit. Und sie verwebt sich mit eurer. Dass das Neue, das daraus entsteht, tragfähig und strapazierbar ist, dass wir an dunklen, kratzigen Fäden nicht verzweifeln und dass es trotzdem mit Leichtigkeit durchsetzt ist, mit Gold und Glitzer und Segen, mit Sonnenstrahlen, mit Hoffnung und Vertrauen, das bitte ich Gott. Den Gott, der mich kennt und dich. Der seine Hand über uns hält. Gott kennt unsere Geschichte, die noch wird. Ich bitte ihn: „Leite mich“, und ich bitte ihn: leite uns zusammen, „auf ewigem Wege“.
Amen
Gott kennt unsere Geschichte, die noch wird.