Bei dir ist die Quelle des Lebens; in deinem Licht schauen wir das Licht.

Glaubensimpuls


Predigt von Priester Dr. Ioan Moga (rumänisch-orthodox) anlässlich des Gottesdienstes zum Tag des Judentums am 17.01.2023 in Wien-Fünfhaus

„Denn bei dir ist die Quelle des Lebens; in deinem Licht schauen wir das Licht“ (Ps. 36, 10)

Der Psalmvers, der das Herz des heutigen Gottesdienstes ausmacht, ist mir seit meiner Kindheit sehr bekannt. Er ist Teil eines alten Hymnus – der sogenannten Doxologie – am Ende des Morgengottesdienstes. In der rumänischen orthodoxen Tradition wird er sehr feierlich von der ganzen Gemeinde gesungen – unmittelbar vor Beginn der Sonntagsliturgie.

Er ist mir vertraut, und doch erst im Kontext des heutigen Tages verstehe ich ihn neu. Für Gläubige, Juden, Christen und Muslime gleichermaßen, ist Gott die Quelle des Lebens, Gott der Schöpfer. Wir alle sind Kinder dieser Quelle. Und diese Quelle ist immer präsent. Ja, der Psalm hat eine kosmische Prägung, da er nicht nur die Menschen in die Geborgenheit der Gerechtigkeit Gottes ruft, sondern die ganze Schöpfung: Du rettest Menschen und Tiere, Herr.

Wir alle sind berufen, diese Quelle des Lebens nicht zu trüben oder zu versperren, sondern in ihrer Frische, Klarheit und Konsistenz für alle zugänglich zu machen. So wie es bei einem zunehmenden Privatisieren des Wassers und der Wasserversorgungsnetze zu großen sozialen Ungerechtigkeiten kommt oder kommen kann, so darf auch das göttliche Wasser nicht vereinnahmt werden. Bei Gott ist diese Quelle, betont der Psalm. Das heißt: bei Ihm, nicht bei mir oder bei dir; oder nur bei mir und bei dir nicht. Wir können und dürfen das göttliche Wasser nicht mit absolutistischen Deutungen privatisieren. Wir können und dürfen uns gegenseitig die Teilhabe an dieser Quelle des Lebens nicht absprechen. Denn das führt unmittelbar zu Ungerechtigkeit.

Doch, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit können leicht zu subjektiven, relativen Werten degradiert werden. „Das Böse das ich nicht sehe, das Böse, das mich nicht betrifft – das existiert fast nicht“. Wenn es mir gut geht, dann ist für mich die Ungerechtigkeit kein existentielles Thema. Nach diesem Prinzip haben während und nach der Shoah viele, viel zu viele und vor allem viel zu viele Christinnen und Christen ihr Gewissen befriedigen wollen. Und sie haben es oft gemacht ohne einzusehen, dass sie längst nicht mehr das Licht im Lichte Gottes schauten, wie im selben Psalmvers formuliert wird. Nein. Ihre Süffisanz war ihr Leuchtturm. Und ihr Leuchtturm war eine Selbsttäuschung. Nach diesem Prinzip leben wir immer wieder, auch heute. So beginnen wir, uns an den unfassbaren Krieg in der Ukraine zu gewöhnen; denn es geht uns hier noch gut; und „wir können sowieso nichts dagegen tun“. Nach diesem Prinzip gewöhnen wir uns auch an die Umweltkrise. Nach diesem Prinzip halten wir auch den Alltagsantisemitismus für gegeben und kaum vermeidbar. – Gegen dieses Prinzip der selbstgebastelten Wohlfühl-Gerechtigkeit gilt es zu kämpfen.

Wir waren vor ein paar Wochen in Mauthausen mit unseren Kindern: erdrückend. Doch, bei aller Sprachlosigkeit, der bleibende Eindruck: Wir sollten viel stärker auf die kollektive Selbsttäuschung hinweisen, die das alles möglich gemacht hat und die auch danach sich mit der Aufarbeitung schwer, sehr schwer getan hat. Der Psalmvers spricht indirekt von dieser Selbsttäuschung: In deinem Licht, schauen wir das Licht. Nicht in anderen Lichtern, nur im Lichte Gottes. Was aber, wenn dieses Licht Gottes falsch verstanden wird? Was, wenn meine Orientierungspunkte falsch sind? Was, wenn ich mich massiv täusche, und entweder durch Ignoranz oder durch Ideologie oder durch kollektive Lethargie Pseudo-Lichter zum Licht Gottes hochstilisiere? Schon zu Beginn des Psalms wird das Drama des sich selbst täuschenden Menschen thematisiert: Die Worte seines Mundes sind Trug und Unheil, er hat es aufgegeben weise und gut zu handeln. Die Sorge vor der geistigen Täuschung und Selbsttäuschung ist ein gemeinsames Gut jüdischer und christlicher Spiritualität. Diese Lektion ist nie erledigt. Sie soll von jeder Generation, ja von jeder Einzelperson immer wieder neu gelernt werden. Und wir dürfen nie das biblische Ideal der Herzensreinheit mit dem Zustand der Selbsttäuschung verwechseln. Herzensreinheit und passives Nicht-Erkennen-Wollen-des-Bösen haben miteinander nichts zu tun.

Elie Wiesel – der aus Nord-Rumänien stammende, bekannte Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger – schreibt in seinem autobiographischen Buch „Die Nacht“ über einen gewissen armen Küster-Mosche, der sich im Dorf um die Synagoge kümmerte. Er war ausländischer Jude und wurde mit einer Gruppe anderer ausländischer Juden sehr früh von den Nazis deportiert. Er kam nach Monaten allein zurück und erzählte allen jüdischen Dorfbewohnern über die Ermordung der Anderen. Niemand wollte und konnte ihm glauben, so unfassbar war das Erzählte. Niemand konnte glauben, dass Menschen so weit gehen können, so blind in ihrer Ideologie und so brutal sein können. Man hielt ihn für einen Verrückten. Diese Menschen glaubten so sehr an die Universalität der Quelle des Lebens, dass sie das Kommen des genuin Bösen, dem sie später zum Opfer fallen sollten, nicht wahrhaben konnten. Sie waren reinen Herzes.

Doch diese tragisch-prophetische Gestalt des Küsters Mosche, mit der Elie Wiesel sein Buch beginnt, ist mehr als nur ein Symbol einer endgültig zerstörten Welt und eines zugrunde gegangenen Urvertrauens; diese Gestalt bleibt eine Warnung an uns alle: Wollen wir die Augen öffnen? Wollen wir die Augen öffnen für die Ungerechtigkeit die neben uns, unter uns ist und irgendwann uns selber betreffen wird?

Wir sind gewohnt am Tag des Judentums große Worte zu hören, auf den latenten Antisemitismus mahnend hinzuweisen, den gemeinsamen Friedensauftrag zu betonen. Doch, das ist zu wenig, wenn es nur auf einen Moment beschränkt bleibt. Wir trinken ja Wasser nicht nur einmal pro Jahr. Wir brauchen die Quelle des Lebens nicht nur ab und zu, sondern jeden Tag. Der Tag des Judentums muss immer diese kritisch-prophetische Stimme erheben: Sind wir wach genug? Arbeiten wir wirklich daran, dass so etwas nie wieder passiert oder vertrauen wir eher einem bequemen Passivitätsethos? Sind wir für antisemitische und xenophobe Diskurse wirklich immun geworden? Die fluide Landschaft der sozialen, oft anonymisierten Netzwerke gibt ernüchternde Antworten darauf. 

Der Tag des Judentums ist aber viel mehr. Er ist auch Zeichen für eine lebendige Geschichte des gemeinsamen Wachsens zwischen Jüdinnen und Christinnen, Juden und Christen. Voneinander lernen, miteinander leben und dabei die religiöse Integrität des Anderen voll und ganz bejahen. Ein Beispiel: Der orthodoxe Kirchenkalender kennt dutzende Frauen und Männer des Volkes Israel, die als Heilige verehrt werden. Elias, die Makkabäer und ihre Mutter, Daniel und die anderen Propheten sind nur einige davon. Oder das große Fest der Beschneidung Jesu Christi am 1. Jänner. Auch wenn viele solche Heilige und Feste meistens typologisch gedeutet wurden, zeigt ihre bleibende Bedeutung in der orthodoxen Frömmigkeit, dass dieses Miteinander fest verankert ist. Nur wenn der Andere für meine religiöse Identität ein Grund zur Freude, zur Feier geworden ist, hat der Dialog die Existenz erreicht. Denn echte Freude ist nicht vereinnahmend, sondern freilassend.

Deshalb soll und darf dieser Tag des Judentums nicht nur ein Tag der mahnenden Erinnerung und prophetischen Wachsamkeit sein, sondern auch ein Tag der Freude für diese unsere gemeinsame Quelle des Lebens, die bei Gott ist, die Gott ist. Freude auch darüber, dass wir gegenseitig daran teilhaben dürfen. Freude und Verantwortung für unsere gemeinsamen Aufgaben. Denn in Zeiten der tiefsten ökologischen Krise ist die Rede von der „Quelle des Lebens“ auch eine Warnung vor der Zerstörung der Integrität der Schöpfung Gottes. Wir sollten uns dabei nicht vom negativen Aktionismus inspirieren lassen, sondern von einem positiven Bewusstsein: Wir, alle Menschen und die ganze Schöpfung, wir sind Teilhaber dieser einen Quelle. Dementsprechend müssen wir handeln. Nur so kann aus der Not des Klimawandels eine echte Umkehr zur Schöpfungsverantwortung kommen. Aus der Freude heraus.

Wir wissen, nicht nur im jüdisch-christlichen Dialog, sondern auch im innerchristlichen Dialog gibt es noch viel zu tun. Es gäbe Gründe genug nicht euphorisch zu sein. Es gibt viel zu viele Lasten aus der Vergangenheit, die uns immer noch bedrücken. Das Vorbild des Dialogs liegt aber nicht hinter uns, in der Vergangenheit, sondern vor uns. In einer zu gestaltenden Zukunft. In einer gemeinsamen Hoffnung. Denn: Nicht wir sind die Quelle des Lebens und der Grund dieser Freude, sondern Gott, allein Gott. Deshalb, wenn wir diese Quelle nicht für unsere individuellen, konfessionellen oder sogar politischen Zwecke privatisieren und vereinnahmen, wenn sie für alle verfügbar und offen bleibt – dann haben wir Grund zur Freude.

Deshalb schließe ich mit einem weiteren Wort von Elie Wiesel: 

„Wenn ich jetzt höre, dass sich Christen zusammenschließen, um das Volk Israel zu verteidigen, dann bringt dies Freude in mein Herz.“ 

Einander Freude zu bringen. Deshalb sind wir hier.

Hin­ter­grund


Der Gottesdienst des Ökumenischen Rats der Kirchen in Österreich zum Tag des Judentums fand am 17.01.2023 in der Evangelisch-methodistischen Kirche in 1150 Wien statt. Mit der Gemeinde vor Ort feierten der methodistische Superintendent Stefan Schröckenfuchs, der serbisch-orthodoxe Bischof Andrej (Cilerdzic), die evangelische Oberkirchenrätin Ingrid Bachler, der orthodoxe Theologe Ioan Moga, der katholische Weihbischof Franz Scharl, der anglikanische Kanonikus Patrick Curran, der altkatholische Bischof Heinz Lederleitner, der reformierte Landessuperintendent Thomas Hennefeld und der syrisch-orthodoxe Chorepiskopos Emanuel Aydin; ebenso der Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Prof. Dr. Martin Jäggle, und der Generalsekretär des Ausschusses, Yuval Katz-Wilfing. 

Der Prediger

Dr. Ioan Moga ist rumänischer-orthodoxer Theologe und seit 2021 assoziierter Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Er ist Priester der rumänisch-orthodoxen Pfarre St. Antonius in 1150 Wien.  

Der Tag des Judentums

Seit über 20 Jahren begehen die Kirchen Österreichs jeweils am 17. Jänner den "Tag des Judentums". Als Gedenktag im Kirchenjahr führte der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) diesen Tag ein. Christinnen und Christen sollen ihrer Wurzeln im Judentum und ihrer Weggemeinschaft mit dem Judentum bewusst werden. Zugleich lädt dieser Tag ein, an jüdischen Menschen und ihrem Glauben begangenen Unrechts in der Geschichte zu gedenken. Wie sehr sich der "Tag des Judentums" in diesen Jahren etabliert hat, zeigen die vielfältigen Veranstaltungen und Gottesdienste in Österreich. Was mit "Gedenktag" begonnen hat, wurde um einen "Lerntag" erweitert, um einen "Tag des Lernens vom Judentum". Das hat vielfältige Formen und findet an unterschiedlichen Orten statt.

Entscheidend dabei ist, nicht über das Judentum zu lernen, sondern vom Judentum und besonders mit mit Jüdinnen und Juden. Der Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit unterstützt dies auf vielfältige Weise.

Bildquelle: Georg Pulling, Kathpress

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