Predigt: Der Got­tes­knecht

Glaubensimpuls

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Esther Handschin

Pastorin, Erwachsenenbildung


Gerade in den Zeiten der Pandemie und vor allem, wenn es länger andauert, taucht da und dort die Frage auf: Was will uns Gott damit sagen? 

Jesaja 50,4-9a

504Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. 5Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. 6Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften.
Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
7Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. 8Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 9Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen?

Liebe Schwestern und Brüder!
Gerade in den Zeiten der Pandemie und vor allem, wenn es länger andauert, taucht da und dort die Frage auf: Was will uns Gott damit sagen? Warum müssen so viele Menschen leiden? Ist das Gottes Weg, dass wir Menschen uns ihm wieder vermehrt zuwenden? Die Überlegungen mancher Menschen gehen von da aus noch weiter: Warum beten die Menschen eigentlich erst zu Gott, wenn es ihnen schlecht geht? Ist das nicht ungerecht, ja Heuchelei Gott gegenüber, wenn wir erst dann anfangen zu beten, wenn wir nicht mehr weiter wissen? Man kann in diesem Verhalten der Menschen nicht nur Heuchelei oder Treulosigkeit sehen kann. Es gibt auch die Erkenntnis, dass Leiden und leidvolle Erfahrungen uns bereit machen, Gottes Nähe zu suchen. Dadurch wird unser Mund zum Gebet geöffnet. So werden unsere Ohren zum Hören bereit. Wir werden aufnahmefähig für das, was uns Gott zu verstehen geben will. Unsere Bereitschaft wächst, dass wir uns etwas von Gott sagen lassen und ihm Vertrauen schenken.

Das ist eine mögliche Antwort, die man auf die Frage nach dem Leid und dem Sinn des Leidens finden kann. Sei es eigenes Leid oder fremdes Leid, es macht uns sensibler und einfühlsamer, uns selbst, unseren Mitmenschen und Gott gegenüber. Doch vom Offenwerden zu Gott hin durch das Leid ist der Weg nicht weit zum Missverständnis. Sehen wir Gott selbst als Urheber und Verursacher des Leids, so sieht es bald so aus, als sei Leiden ein pädagogisches Mittel, mit dem uns Gott in seine Nähe bringen und erziehen will. Statt der liebevollen Zuwendung wird auf einmal die Strafe prägend für unser Gottesbild. Wer mag sich schon einem Gott anvertrauen, von dem man nie weiß, wann er das nächste Mal wieder als Urheber des Leids zuschlägt? Wer sucht die Nähe eines Gottes, zu dessen Erziehungsmitteln Schläge gehören? Das ist eine andere — und wie ich meine äußerst schädigende Art — dem Leiden einen Sinn zu geben. Und sie ist nach wie vor verbreitet, im Suchen der Menschen, in ihren Antworten, die sie sich zurechtlegen, in den Liedern, die gesungen werden und nicht zuletzt in der Bibel finden wir diese Ansicht zur Erklärung von Leid. So zum Beispiel bei den Freunden Hiobs, die ihm immer wieder beizubringen versuchten, dass seine leidvollen Erfahrungen nichts anderes als eine Strafe Gottes sein müssen.

Der heutige Predigttext zeigt uns eine ganz andere Art, mit Leid und Verfolgung umzugehen. Es spricht hier der sogenannte „Gottesknecht“, eine wohl prophetische Gestalt, deren Name uns nicht überliefert ist. Er weiß sich in unmittelbarer Nähe zu Gott. Er bezeichnet sich selbst als Schüler, als Jünger, dessen Ohr jeden Morgen geöffnet wird, um zu hören, was sein Lehrer zu sagen hat. Auch leidvolle Erfahrungen hat er gemacht. Aberdas Leid führt ihn weder in eine besondere Gottesnähe, denn er ist ja schon in dieser Nähe. Noch ist das Leid etwas, was von Gott her kommt, was ihm geschickt wird zur Strafe und Buße. Er beschreibt nur, was ihm an Leid widerfahren ist und nimmt für sich in Anspruch, dass Gott trotz dieser Erfahrungen ihn nicht verworfen hat, sondern auf seiner Seite bleibt und ihm das Recht zuspricht.

Diese Sichtweise war zu der Zeit, als der Gottesknecht seine Botschaft weitergab, genauso radikal und überraschend wie heute. Damals war das Volk Israel in der babylonischen Verbannung. Das Land wurde besetzt und die Bewohnerinnen und Bewohner aus der Heimat in die Fremde weggeschleppt. In der neuen Heimat gab es eigentlich nur eines: Sich an die neuen Verhältnisse anpassen und das auf möglichst allen Lebensgebieten, auch in religiösen Dingen. Wozu soll man noch einem Gott aus der alten Heimat vertrauen, wenn er es nicht einmal geschafft hat, einem diese alte Heimat zu erhalten? Wozu noch diesem alten Zopf anhängen, wenn doch offensichtlich ist, dass die Götter der neuen Heimat soviel mehr taugen? „Der alte Jahwe-Gott hat versagt und gehört auf den Müll, zur Entsorgung frei gegeben.“ Solche Stimmen waren zu hören unter der jüdischen Bevölkerung von Babylon. Sie passten sich an die gegebenen Verhältnisse an ohne Widerstand zu leisten.

Nicht so aber der namenlose Prophet. Er weiß sich von Gott beauftragt und in seinem Amt getragen, gerade auch in der Anfechtung und Fremde. Gott begabt ihm seine Zunge mit der rechten Rede, um die Müden zu trösten, gerade die, die ihres Gottes müde und überdrüssig geworden sind. Selbst vor Spott und Schlägen scheut er nicht zurück. Ob sie nun gerechtfertigt sind oder nicht. Er nimmt das Leid an, das die anderen ihm zufügen und kommen sie gar aus den eigenen Reihen. Er weiß sich vor ihren Angriffen zu schützen. Er macht sein Angesicht hart wie einen Kieselstein. Es ist ein innerer Schutz, den er sich zulegt. Er erwächst aus der Gewissheit, dass Gott ihm hilft und ihm recht gibt. Mögen andere höhnen: „Dein Gott ist tot.“ Der Prophet wagt den Streit und fordert seine Gegner heraus, denn er weiß Gott auf seiner Seite. „Wer will mit mir rechten?“ ruft er ihnen zu.

Dass sich einer so im Recht weiß, dass einer so von Gottes Nähe getragen ist, obwohl alles gegen ihn steht, das irritiert. Damals und auch später. Der Nähe Gottes gewiss und im Einklang, dass Gott ihm Recht schaffen wird, so ging auch Jesus nach Jerusalem. Seine Gewissheit hat diejenigen irritiert, die meinten die Sache Gottes zu vertreten. Selbst Spott, Verhöhnung und falsche Anklage ließen ihn nicht irre werden, Gott seinen himmlischen Vater zu nennen. Auch Jesus hat das Leid angenommen. Er, der gesagt hat, wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die linke hin, er hat sich nicht gewehrt als sie ihn schlugen. Und über das hinaus hat er den Tod angenommen. Aber es geschah nicht ohne Zittern und Zagen, nicht ohne Schrei, wo Gott denn sei, nicht ohne die Einsamkeit zu spüren und der Nähe Gottes nicht mehr gewiss zu sein. Denn Jesus hat am Kreuz gerufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Gottes Nähe bleibend gewiss zu sein und darauf zu vertrauen, dass er den Rechtlosen zu ihrem Recht verhilft, das ist eine Erfahrung, die sich bei den Jüngern Jesu erst mit Ostern einstellt hat. Erst mit dieser Erfahrung wurde ihnen bewusst: Gottes Nähe ist uns mit dem Tod Jesu nicht verloren gegangen. Erst da haben sie erkannt, dass Gott auch auf der Seite dessen steht, der zu Unrecht verurteilt wurde, der einen unfairen Prozess erhalten hat, der wie ein Verbrecher hingerichtet wurde. Für viele ist es auch heute noch eine Provokation, radikal und überraschend zugleich, dass die Nähe Gottes mehr auf der Seite der Ohnmächtigen und Verlierer zu suchen ist, als bei den Siegern und Gewinnern. Es irritiert nach wie vor, das damalige Geschehen wie auch heutiges Vorkommen.

Hinter den zu Beginn gestellten Fragen klingt noch etwas anderes an. Da ist das Verhalten der Menschen, dass sie Gott gegenüber treulos sind und erst dann seine Nähe suchen, wenn sie selbst an ihre Grenzen kommen. Doch dahinter steht die Frage: Und wie ist es mit Gott? Wie wird er sich verhalten, wenn Menschen ihm gegenüber treulos sind? Wird er auch treulos sein und es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen? Wie ist das mit Gottes Nähe? Ist die uns zugesagt, auch wenn wir sie ablehnen? Oder wird Gott sich aufgrund unseres Verhaltens zurückziehen?

Wir haben bei den Predigten der letzten Sonntage über das Thema des Bundes immer wieder gehört, dass Gott sich selbst treu bleibt. Was er verheißen hat, das hält er, auch wenn seine Pläne von uns Menschen durchkreuzt werden. Die Botschaft von Ostern unterstreicht das noch einmal in anderer Weise. Die Auferstehung Jesu ist das Ereignis, wo Gott seine Treue den treulosen Menschen gegenüber bestätigt. Verschiedene Menschen erfahren es auf ihre Weise, dass gerade ihr treuloses Verhalten keine tödlichen Folgen hat, sondern dass sie von neuem von Gott in seinen Dienst genommen werden. Petrus, der Jesus verleugnet hat, er soll die Lämmer seines Herrn weiden. Jünger, die geflohen sind und Jesus am Kreuz im Stich gelassen haben, sie werden beauftragt, das Evangelium weiter zu tragen. Paulus, ein Verfolger der Christen, erlebt bei Damaskus sein eigenes Ostern und eine Lebenswende, die er zuvor nicht für möglich gehalten hat. So wie Jesus in bleibender Beziehung zu seinem himmlischen Vater gestanden ist, so haben die ersten Nachfolger Gottes bleibende Treue und Nähe erlebt.

Auch uns gilt diese bleibende Nähe Gottes. Er zieht sich nicht zurück, auch wenn wir treulos werden und ihn im Stich lassen. Das wirft ein neues Licht auf unsere Erfahrungen von Leid. Wenn Gottes Nähe bleibt — auch im Leid — dann kann Leid keine Strafe sein. Es kann nicht bedeuten, dass wir verworfen sind. Wenn Gottes Nähe auch im Leid bleibt, dann brauchen wir dieses Leid weder zu verleugnen noch wegzuschieben. Wir können es annehmen, weil wir wissen, dass Gottes Nähe bleibt — auch durch das Leid hindurch. Und darüber hinaus: Wenn mir Gottes Nähe im Leid gewiss ist, dann wächst in mir die Bereitschaft, auch neues Leid anzunehmen. Nicht um damit Gott näher zu sein, sondern weil ich weiß, dass mich auch neues Leid nicht von seiner Liebe trennt. Aus dieser Gewissheit heraus hat schon dieser namenlose Prophet, den wir den Gottesknecht nennen, gelebt. Das gab ihm die Kraft, selbst im Leiden Gott gehorsam zu sein und das zu tun, wozu er von Gott begabt war: Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden und ihnen die bleibende Nähe Gottes zuzusagen. Amen.

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