Ein Lied wirkt Wunder

Glaubensimpuls

Bild von Dorothee Büürma
Dorothee Büürma

Pastorin, Erwachsenenbildung


Eine weihnachtliche Geschichte aus dem Salzburger Gottesdienst am 26.12., bei deren Lesen man gern das Gesangbuch zur Hand nehmen darf!
Kirche innen

Ein Lied wirkt Wunder

1:

Herr Emsig war bereits am frühen Morgen des Heiligen Abend auf den Beinen. Seine Frau wartete darauf, dass er endlich den Weihnachtsbaum aufstellte und die Schachtel mit den Kerzen und Kugeln vom Dachboden holte. Das Licht im Stiegenhaus funktionierte nicht, in der Wohnung von Familie Sinn ließ sich die Wasserspülung der Toilette nicht abstellen, und zu allem Überfluss hatte ein Sturm vor dem Haus eine große Unordnung angerichtet. Als Hausmeister im Warfieldhaus musste er sich um alles kümmern. Im Treppenhaus entdeckte er einen Stern am Fenster. Er riss ihn im Vorbeigehen ab und ärgerte sich, dass die Mieter*innen mit ihren Dekorationen auf seinen sauber geputzten Fenstern Klebespuren hinterließen.

Als er vor die Haustüre trat, sah er die alte Frau Fröhlich in Hausschuhen und ohne Mantel in der Kälte stehen. „Mein Sohn holt mich ab, und dann singen wir Weihnachtslieder“, sagte sie. Herr Emsig brachte sie in ihre Wohnung zurück. Frau Fröhlich nahm seine Hand und zog ihn in ihr Wohnzimmer. Dort stand ein wunderschönes weißes Klavier. Sie setzte sich ans Klavier. "Singen Sie mit", bat sie ihn. Herr Emsig kannte das Lied nicht sehr gut, aber er versuchte mitzusingen, so gut es eben ging: 

„O heil-ge Nacht, o heil-ge Nacht, du hast der Welt das Heil gebracht“ (EM GB 186)

Das Lied weckte bei Herrn Emsig Erinnerungen:

„Das waren noch Zeiten, als ich noch ein Kind war und keine Pflichten hatte. Da schien die Welt wirklich heil. Ich musste nicht Tag für Tag arbeiten. Ich konnte mich noch an einfachen Dingen freuen. Ich habe Sterne gebastelt und aufgehängt. Und mich auf die Geschenke gefreut. Es war eine schöne Zeit, und manchmal wünsche ich mir diese schöne Zeit zurück. Sollte die Weihnachtszeit nicht eigentlich die Zeit sein, in der wir unseren Traum von einer heilen Welt wenigstens ein bisschen leben?“

Frau Fröhlich saß lächelnd am Klavier. „Danke“, sagte Herr Emsig und verließ die Wohnung. Er stellte den Weihnachtsbaum auf, und dann suchte er in den Schachteln auf den Dachboden und hängte im Treppenhaus die Goldsterne auf, die er einst mit seinen Kindern gebastelt hatte.

 

2:

Frau Emsig schleppte ihren Weihnachtseinkauf nach Hause und ärgerte sich, dass ihr Mann ihr bei den schweren Tüten nicht helfen konnte. Als Hausmeister hatte er immer eine Ausrede. Er kümmerte sich um alles Mögliche im Haus, aber für die eigene Wohnung hatte er keine Zeit. Nicht einmal den Weihnachtsbaum hatte er bisher aufgestellt. So hatte sie sich das Leben mit ihm nicht vorgestellt. 

Im Stiegenhaus kam ihr Frau Fröhlich in Hausschuhen und ohne Mantel entgegen. „Mein Sohn holt mich ab, und dann singen wir Weihnachtslieder“, sagte sie. Frau Emsig brachte sie in ihre Wohnung zurück. Frau Fröhlich setzte sich an ihr Klavier und begann zu spielen. Frau Emsig erkannte nach den ersten Takten das Lied wieder und sang mit.

„Als die Welt verloren, Christus ward geboren; in das nächt’ge Dunkeln fällt ein strahlend Funkeln. Und die Engel freudig singen, unterm Himmel hört man’s klingen …“ (EM GB 183)

Das Lied macht Frau Emsig nachdenklich:

„Mir ist es so gar nicht weihnachtlich zu Mute. Eher dunkel und finster! Meine Unzufriedenheit, mein ständiger Stress, mein ganzes oberflächliches Leben, das liegt auf meinem Herzen. Es funktioniert ja alles irgendwie, aber es ist so ohne Inhalt und ohne Glück. Wir waren einmal so glücklich zusammen. Jetzt streiten wir nur noch. Sollte die Weihnachtszeit nicht eigentlich die Zeit sein, in der wir noch einmal neu anfangen und liebevoll miteinander umgehen?“

Frau Fröhlich saß lächelnd am Klavier. „Danke“, sagte Frau Emsig und verließ die Wohnung. Als sie in die Wohnung zurückkehrte, sah sie, dass der Weihnachtsbaum schief stand. Sie schluckte jedoch die Bemerkung hinunter, die ihr auf den Lippen lag, und sagte: „Danke, dass du den Baum schon aufgestellt hast.“ 
 

3:

Auch Frau Einsam war unterwegs, um ihren Einkauf zu erledigen. Seit ihr Mann im Frühjahr gestorben war, ging sie den anderen Menschen aus dem Weg. Sie hätten sie ja doch nicht verstanden. 

Besonders in diesen Tagen war es schwer. Überall zeugte die weihnachtliche Dekoration von einer heilen Welt, die es für sie nicht mehr gab. Ihre Wohnung zierte kein Stern, kein Tannenzweig verbreitete seinen Duft, keine Kerze spendete ihr warmes Licht. Draußen aber konnte man dieser fröhlichen Stimmung nicht entrinnen. So war sie froh, als sie das Nötigste beisammen hatte und in ihre dunkle Wohnung zurückkehren konnte. Vor der Haustüre traf sie Frau Fröhlich. Sie trug keinen Mantel und fror. „Mein Sohn holt mich ab, und dann singen wir Weihnachtslieder“, sagte sie.

Frau Einsam begleitete die alte Frau zu ihrer Wohnung zurück. Frau Fröhlich rückte einen zweiten Stuhl an ihr Klavier und bat Frau Einsam Platz zu nehmen.Sie schlug das Liederheft auf und begann zu spielen. Frau Einsam war es zwar überhaupt nicht nach Singen zumute, doch sie versuchte, so gut es ging, mitzusingen:

"Das Blümelein so kleine, das duftet uns so süß; mit seinem hellen Scheine vertreibt’s die Finsternis: Wahr’ Mensch und wahrer Gott hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd und Tod." (EM GB 164,3)

Das Lied weckte bei Frau Einsam tiefgründige Gedanken:

„Ja, diese Finsternis kenne ich. Immer wieder habe ich geweint, und nun habe ich fast keine Tränen mehr. Mein Leben ist nur noch traurig. Ich könnte ein solches Blümelein und einen hellen Lichtschein dringend brauchen. Früher glaubte ich noch, an Weihnachten käme die Welt in Ordnung. Aber ohne meinen Mann ist das nicht möglich. Wie macht das wohl Frau Fröhlich? Sie ist doch auch allein. Hat sie einen Weg ins Leben zurück gefunden? Sollte ich doch Weihnachten feiern? Aber wie?“

Frau Fröhlich saß lächelnd am Klavier. „Danke“, sagte Frau Einsam und verließ die Wohnung. Sie ging noch einmal in die Stadt, besorgte sich eine Kerze und ein paar Kekse, und dann packte sie in ihrer Wohnung die Schachtel aus, in der sie die Sterne vom letzten Jahr aufbewahrte.

 

4:

Frau Sinn weckte ungeduldig ihre Kinder. Wenigstens am Heiligen Abend könnten sie ihr helfen. Während sie jeden Tag zur Arbeit ging und abends kochte und den Haushalt erledigte, verbrachte ihr Sohn Thomas den ganzen Morgen im Bett und den Nachmittag und Abend mit Computerspielen. Ihre Tochter Lucia ging wenigstens noch zur Schule, doch ihre Freizeit verbrachte sie mit ihren Freunden. Beide ließen sich von ihrer Mutter bedienen. 

„Irgendetwas mache ich falsch“, dachte Frau Sinn. „Meine Kinder brauchen wohl kein Familienleben mehr, nur noch eine Bedienung. Ich sollte nur noch an mich selbst denken.“

Sie wollte gerade einkaufen gehen, als sie Frau Fröhlich ohne Mantel vor die Türe gehen sah. Sie eilte zu ihr. „Mein Sohn holt mich ab, und dann singen wir Weihnachtslieder“, sagte sie. Frau Sinn begleitete die alte Frau zu ihrer Wohnung. Frau Fröhlich ging zum Klavier und begann zu spielen. Frau Sinn hatte eigentlich keine Zeit, doch sie erinnerte sich noch an das Lied.

"Es ist für uns eine Zeit angekommen, es ist für uns eine große Gnad': Unser Heiland Jesus Christ, der für uns, der für uns, für uns Mensch geworden ist." (EM GB 192)

Das Lied weckte in Frau Sinn eine tiefe Sehnsucht:

„Schön wäre es, wenn für mich ein Heiland geboren wäre. Immer muss ich selbst alles heil machen. Seit der Scheidung ist in unserer Familie nichts mehr heil. Ich rege mich ständig über die Kinder auf, ich arbeite von früh bis spät, und was kommt dabei heraus? Wir haben nur Streit. Die Kinder machen, was sie wollen, und ich kann es ihnen noch nicht einmal verdenken. Wo soll denn die Familienfreude bei uns herkommen? Ach waren das noch Zeiten, als wir miteinander gesungen haben. Vielleicht täte mir ein Gottesdienst heute gut.“

Frau Fröhlich saß lächelnd am Klavier. „Danke“, sagte Frau Sinn, verließ die Wohnung und schaute im Internet nach, wann heute ein Gottesdienst angeboten würde.

 

5:

Lucia brauchte noch eine kleines Geschenk für ihre Freundin. Deshalb wollte sie noch einkaufen. Vor der Haustüre traf sie Frau Fröhlich. Sie stand ohne Mantel in der Kälte und hatte offensichtlich die Orientierung verloren. „Mein Sohn holt mich ab, und dann singen wir Weihnachtslieder“, sagte sie. Die alte Frau tat Lucia leid. Sie begleitete sie zu ihrer Wohnung. Frau Fröhlich schlug das Liederheft auf und begann zu spielen. Lucia kannte das Lied nicht und sie hatte auch schon lange nicht mehr gesungen, doch sie versuchte es, so gut es ging.

"Wär Jesus im Stall nicht als Retter geborn, so wären wir Menschen auf ewig verlorn. Drum preist ihn und lobt ihn! Euch leuchtet der Stern. Singt fröhlich und dankbar dem Kind, unserm Herrn!" (EM GB 191,4)

Lucia konnte sich nicht gegen die Gedanken wehren, die das Lied bei ihr auslöste:

„Was macht mich eigentlich fröhlich? Die Party heute bestimmt nicht. Da gehe ich nur hin, weil ich nichts verpassen will. Aber richtig von Herzen freuen, so wie früher, das kann ich mich nicht. Als wir noch Kinder waren, war Mutter auch viel glücklicher. Jetzt schimpft sie nur noch und ist immer unzufrieden. Ich würde sie gerne einmal glücklich sehen. – Und wenn ich heute Abend hier bleibe? Ob sie dann glücklich würde? Ich glaube es nicht. Aber versuchen könnte ich es.“

Frau Fröhlich saß lächelnd am Klavier. „Danke“, sagte Lucia, verließ die Wohnung , nahm ihr Handy zur Hand und sagte die Party ab. Dann fragte sie ihre Mutter, was sie ihr helfen könnte.

 

6:

Thomas konnte nicht mehr schlafen. Der Heilige Abend bereitete ihm alle Jahre wieder ein Problem. Am späten Nachmittag konnte er nicht mehr einkaufen. Ob der Getränkevorrat wohl reichte? An der Tankstelle war es ihm zu teuer. Also stand er auf, um noch Bier zu holen. Am Straßenrand sah er Frau Fröhlich stehen – mit Hausschuhen und ohne Mantel. „Mein Sohn holt mich ab, und dann singen wir Weihnachtslieder“, sagte sie.

Thomas begleitete die alte Frau zu ihrer Wohnung zurück. Frau Fröhlich ging zum Klavier, schlug das Liederheft auf und begann zu spielen. Thomas hatte schon lange nicht mehr gesungen, doch er gab sich Mühe.

„Stern-Kind, Erd-Kind: Gott sagt zu uns Ja!“ (EM GB 188)

Thomas geriet ins Grübeln:

„Wo ist mein Weg? Wo will ich eigentlich hin mit meinem Leben? Es hat doch alles keinen Sinn. Schlafen, Essen und Trinken und Computerspielen – das ist alles. Freunde habe ich auch nicht, denn die leben ja alle anders. Aber was kann ich dafür, dass ich keine Arbeit habe. Es gibt ja keine. – Aber was mache ich mit meinem Leben? Ich kann doch nicht mein Leben verschlafen, nur weil ich keine Arbeit habe. Irgendetwas müsste ich doch tun. Für irgendetwas müsste ich doch gebraucht werden. Ob meine Mutter mich heute braucht? Wer stellt eigentlich den Baum auf?"

Frau Fröhlich saß lächelnd am Klavier. „Danke“, sagte Thomas, verließ die Wohnung und fragte seine Mutter nach dem Baum, und dann machte sich dann auf den Weg, um einen zu besorgen. Vielleicht konnte er ja mithelfen, dass Mutter einen schönen Tag hatte.

 

7:

Am Nachmittag erhielt Hausmeister Emsig einen Anruf von Herrn Fröhlich. Er ging von Tür zu Tür und teilte den Nachbarn mit: „Die alte Frau Fröhlich ist heute ins Pflegeheim gekommen. Ihr Sohn hat sie hingebracht. Sie hat ja den ganzen Morgen auf ihn gewartet. Aber ich glaube, mit dem Heim hat sie nicht gerechnet. Natürlich ist sie schon ein bisschen verwirrt, aber sie hätte sicher noch in ihrer Wohnung bleiben können. Wir hätten alle ein bisschen mehr nach ihr schauen können. “ 

Als er am Abend noch zusammen mit seiner Frau zum Pflegeheim fuhr, traf er die Nachbar*innen dort wieder. Sie standen im Gemeinschaftsraum bei Frau Fröhlich, einer hatte gar eine Gitarre mitgebracht und so sangen sie ihr ein Lied:

„Vor langer Zeit in Bethlehem…“

 

Urheberrechte:
verfasst von Harmine Büürma / Albrecht Köstlin-Büürma im Advent 2015 
und überarbeitet zu Weihnachten 2021, von Dorothee Büürma

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